1842 Vom Wechsel zum Kredit

„In jedem Land vollzieht sich die Mehrzahl der Geschäfte im Kreis der industriellen Beziehungen. Der Produzent eines Rohstoffes liefert sein Produkt an den weiter verarbeitenden Fabrikanten und bekommt von dem Fabrikanten eine Zahlungspromesse. Der Fabrikant liefert sein Produkt zur weiteren Verarbeitung an einen Dritten und erhält von diesem auch eine Zahlungspromesse. So gehen die Rohstoffe, Vor-, Zwischen und Endprodukte von einem Industriellen zum nächsten – und in der Gegenrichtung laufen die Zahlungspromessen – bis zum Konsumenten. Jeder borgt mit der einen Hand und leiht mit der anderen. So vollzieht sich in den industriellen Beziehungen ein unaufhörlicher Austausch von Vorschüssen, die sich kombinieren und in allen Richtungen durchkreuzen. In der Vervielfältigung dieser gegenseitigen Vorschüsse besteht die Entwicklung des Kredits – und dort ist der wahre Sitz seiner Macht.“ Ch Coquelin in Du Credit et des Banques dans l’Industrie, 1842 in Revue des deux Mondes erschienen, zit in KM3, S. 415, mod by IE2013

Eine Promesse ist ein Versprechen und dürfte so etwas wie ein Wechsel sein.Während der richtige Wechsel (siehe Venediger Kassenverein) die Bezahlung einer Ware mit richtigem Geld quasi nur ein Stück in die Zukunft verschiebt, meint Coquelin aber etwas ganz anderes. Produzent A stelle die Rohstoffmenge R1 her, die er mit B gegen eine Zahlungspromesse tauscht. Da jedes Produkt, welches gegen ein anderes Produkt getauscht wird, zur Ware wird, können wir statt R1 auch W1 sagen. B verarbeitet den Rohstoff weiter, zu einem Vorprodukt für C. Wenn B dann sein Produkt an C weiter verkauft, wird es zu W2, die er gegen die Zahlungspromesse von C tauscht – usw. usf. Die folgende Tabelle möge die Tauschvorgänge verdeutlichen:

A B C D E
Produktion W1
1. Austausch W1 ⇔ Promesse
ZwiSit nach 1. Austausch Promesse von B W1
Weiter-verarbeitung W1 → W2
2. Austausch W2 ⇔ Promesse
ZwiSit nach 2. Austausch Promesse von C W2
Weiter-verarbeitung W2 → W3
3. Austausch W3 ⇔ Promesse
ZwiSit nach 3. Austausch Promesse von D W3
Weiter-verarbeitung W3 → W4
4. Austausch W4 ⇔ Promesse
ZwiSit nach 4. Austausch Promesse von E W4

Was bei Coquelin gar nicht mehr vorkommt, ist der Eintausch der Promesse in richtiges Geld, also Gold oder Silber. Das also meint Coquelin mit „Jeder borgt mit der einen Hand und leiht mit der anderen.“ – was, bei Lichte betrachtet, aber leider wieder eine falsche Aussage ist. Untersuchen wir einmal die Bedeutungen von „Borgen“ und „Leihen“. Beide Begriffe können für etwas weggeben, als auch für etwas bekommen stehen. Wenn ich mir von meinem Nachbar 1 kg Mehl borge, bekomme ich etwas und der Nachbar gibt es weg. Leihen bedeutet sinngemäß das Gleiche wie Borgen. Leihen und Borgen schließen aber die Rückgabe der geborgten Sache ein. Schauen wir uns konkret Produzent A an. A leiht B die Warenmenge W1 und borgt sich bei B den Wechsel. Wann aber bekommt A die geborgte Sache zurück? An keiner Stelle der Austauschbeziehungen! Das gilt für B, C, D und E unisono. IE, 2013

Kehren wir zu Coquelin zurück: „ … – bis zum Konsumenten.“ Wer ist dieser mysteriöse Konsument? Vielleicht ein Person namens K? K wie Kaiser, König, BänKster, Kaufmann, Kapitalist, … Nehmen wir an, E verkauft als letzter Produzent in der Herstellungskette das Endprodukt an den Konsumenten K: W4  Promesse von K. A bis E stellen also gemeinschaftlich etwas her und K konsumiert die hergestellte Ware. Auch K hat natürlich etwas „gearbeitet“, nämlich die Promesse ausgestellt. Aber wie lange hat K gebraucht, um die Promesse auszustellen im Vergleich zur Herstellung der konsumierten Warenmenge? Wie groß ist der Produktwert der Promesse im Vergleich zum Produktwert der Warenmenge W4? K hat garantiert nur eine Bruchteil der Arbeitszeit gebraucht im Vergleich zur Arbeitszeit von A bis E. Das ist der wahre Sitz der Macht – die ökonomische Verdummung der Produzenten. Sie werden um die Früchte ihrer Arbeit gebracht, arbeiten für die Bedürfnisse des K und bekommen produktwertlose Zahlungspromessen. IE, 2013
Die nächste Frechheit ist das Verdrehen von Begriffsbedeutungen. Wenn man etwas weggibt, ohne dafür gleich etwas zu bekommen, z.B. ein Glas Bier an einen durstigen Gast, dann kreditiert der Wirt den Gast. Der Wirt gibt also den Kredit und der Gast hat die Schulden. Sowohl in dem Glas Bier – als auch die Warenmengen von W1 bis W4 steckt allerdings menschliche Arbeitszeit, so daß sie einen Produktwert haben – und die Produzenten die Kreditoren sind. Die Bänkster haben dann aber das Kunststück fertig gebracht, den Leuten einzureden, daß ihre Papierzettel, welche sie hochtrabend Banknoten nennen und mit denen sie sämtliche Waren der Produzenten kaufen können, Geld sei. Mit Zetteln ohne Produktwert werden die Produzenten von A bis Z um die Früchte ihrer Arbeit gebracht: der Bergmann um seine Edelmetalle, der Bäcker um seine Brötchen, der Maurer um seine Häuser, der Mechaniker um seine Autos, der Weinbauer um seinen Champagner, der Juwelier um seine Diamanten, … Das ist das Geheimis der „wahren“ Macht. Bei den Produzenten sammeln sich die Promessen an, mit denen die Bänkster jene Waren gekauft haben, die sie zur Befriedigung ihrer großzügigen Lebensstile konsumieren, ohne auch nur einen Finger dafür krum gemacht zu haben. IE, 2013
In den vierziger Jahren wurde beim Diskontieren von Wechseln statt der Auszahlung physischen Goldes Wechsel von einer Bank auf die andere mit 21 Tagen Laufzeit ausgegeben. Aussage des Provinzialbänkers J Pease, zit in KM: Das Kapital, Bd 3, S. 418: „Nach demselben Bericht hatten die Bankiers die Gewohnheit, sobald Gold knapp wurde, ihren Kunden regelmäßig solche Wechsel statt physischem Gold auszuzahlen. Für die Banken kam dies dem Privilegium gleich, Geld zu machen. Sobald Gold knapp war und der Zinsfuß über 5%, zahlten die Bankiers von Jones Loyd & Co in dieser Weise seit unvorstellbaren Zeiten. Die Kunden waren froh, solche Banker´s Bills (= Bänkerwechsel = Banknoten) zu erhalten, weil Wechsel von Loyd & Co leichte zu diskontieren waren als eigene. Auch liefen solche Wechsel oft durch 20 bis 30 Hände.“ K Marx: Das Kapital, Bd.1, S. 418